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Positiv leben mit Tourette und Co

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Der folgende Erfahrungsbericht enthält eine wichtige Botschaft: "Vieles steht und fällt mit der Einstellung." Wir freuen uns, dass du nicht nur einen Weg gefunden hast, mit deiner Erkrankung gut umzugehen, sondern dass du dir deine Lebensfreude erhalten konntest und dein Leben genießt. Wir hoffen, dass dein Bericht vielen Menschen ein gutes Beispiel ist und auch dich in schweren Zeiten erinnern und aufbauen kann.

"Die meisten Menschen haben schon mal was vom Tourette-Syndrom gehört, aber nur die wenigsten wissen, was das überhaupt ist. Die meisten denken, Tourette sei diese komische Krankheit, bei der die Leute fluchen und obszöne Sachen sagen, aber das stimmt nur zum Teil. Was die Leute da meinen, ist Koprolalie, eine Unterform von Tourette, die nur etwa jeder fünfte Touretter hat. Ich hab sie nur selten. Allgemein ist Tourette die Kombination aus motorischen und vokalen Tics, also quasi zwanghafte Bewegungen und Geräusche, die beliebig komplex werden können, bis hin zu z.B. Koprolalie.

Seit ich 14 bin, habe ich diese Tics. Damals dachte ich "nicht noch etwas", weil ich bereits mit Depressionen, Panikattacken und selbstverletzendem Verhalten gesegnet war, aber dass man da was tun könnte, auf die Idee kam ich nicht. Ich litt einfach stumm und alles wurde immer schlimmer. Ich ging von Arzt zu Arzt, bekam Diagnose um Diagnose, und irgendwann begann ich, mich zu informieren und erfuhr vor allem, dass ich eigentlich ganz normal bin. Dass es nichts besonders ungewöhnliches war, dass sich bei mir die Diagnosen häuften, sondern dass ADHS, Depressionen sowie Angst/Panik und Zwänge zu den üblichen Begleiterkrankungen von Tourette gehören. Dass ich dazu noch eine dissoziative Störung habe, bei der ich regelmäßig meinen Körper nicht spüre und die Welt um mich herum als unwirklich empfinde und mich daher selbst verletze, das ist eigentlich das einzige, was einen verwundern könnte, aber das gehört eben auch zu mir.

Schließlich fand ich einen Therapeuten, dem ich vertraute und mit dem ich auf den langen Weg der Therapie ging. Therapie ist nicht angenehm, und manchmal fragt man sich, wozu man das eigentlich macht, aber es hat mir unglaublich viel gebracht. Ich wurde endlich mal wie ein Mensch behandelt und wir versuchten, begleitend das richtige Medikament für mich zu finden. Wobei es eher die richtigen Medikamente sind. Die Suche dauert bis heute an, aber zumindest gegen das ADHS hab ich was gutes gefunden und seitdem sind auch meine Depressionen deutlich besser. Die Angst/Panik habe ich mit einer Verhaltenstherapie halbwegs in den Griff bekommen, mittlerweile gehe ich mehr oder weniger angstfrei durchs Leben, und auch an den Dissoziationen und dem selbstverletzenden Verhalten arbeiten wir. Das Tourette selbst rückt nie ganz in den Hintergrund, immer will es auch mitspielen. So mache ich eine Verhaltenstherapie, mit der ich lerne, mit den Tics besser klarzukommen und bekomme Medikamente, die die Tics abschwächen sollen, was mal besser, mal schlechter funktioniert.

Was mir aber mit Abstand am meisten geholfen hat, war nicht die Therapie, sondern der Austausch mit anderen Betroffenen. Ich habe andere Leute mit Tourette kennen gelernt, von ihnen Tipps erhalten für den Alltag und jede Menge Selbstbewusstsein gesammelt. So versuche ich jetzt nicht mehr, mich zu verstecken, was ja ohnehin schlecht klappt, wenn man ständig zuckt und komische Geräusche macht, sondern gehe aktiv auf die Leute zu und erkläre im Zweifelsfall dreimal, was mit mir los ist. Ich studiere, und für meine Kommilitonen ist Tourette das selbstverständlichste der Welt. Es gehört einfach zu mir. Ich bin nicht meine Krankheit, sondern ich bin trotz meiner Krankheit. Es dreht sich nicht alles um Tourette, aber es wird eben auch nicht totgeschwiegen. Und ich denke, genau das ist der richtige Weg. Der offene Umgang und die Aufklärung meines Umfeldes helfen mir und allen anderen weiter, und auch wenn ich schlechte Tage habe und auch wenn ich oft durch irgendwelche Krankheiten gehandicapt bin, so bin ich doch mitten im Leben.

Wie ist es, mit Tourette und den anderen Erkrankungen zu leben? Anders, aber dadurch nicht automatisch schlechter. Ganz klar, du fällst auf, egal wo du bist und was du machst, du fällst auf. Du wirst von Leuten für blöd gehalten, angestarrt oder auch ausgelacht. Manchmal sitzt du da und versuchst verzweifelt, einen Becher zu greifen, aber deine Hand zuckt ständig weg. Du willst mit jemandem ein ernstes Gespräch führen, aber dein Kobold im Kopf ist der Meinung, dass es doch viel lustiger wäre, sinnlose Wörter in die Runde zu rufen. Du hast Angst vor dem Bus fahren, weil du dort eine Panikattacke kriegen könntest. Oder so starke Tics, dass dich alle anstarren. Oder beides. Du hast zwanghafte Abläufe in dir, weswegen du für einen Autisten gehalten wirst (und wer weiß, vielleicht bist du ja einer, die Diagnostik war nie eindeutig) und alle schmunzeln, wenn du gerade in einem Ablauf fest hängst. Du hast manchmal einfach nur Scheißtage, an denen die Welt für dich untergeht, du dich selbst nicht mehr spürst und wie von selbst beginnst, dich zu zerschneiden in der Hoffnung, dass es dadurch besser wird. Aber dann hast du eben auch Tage, an denen du die ganze Welt umarmen könntest. Wer Tourette hat, wird nicht vergessen, und bekommt Aufmerksamkeit, wo er auch hingeht. Die Leute sind trotz allem lieb zu dir und unterstützen dich, wo sie nur können. Und du darfst vor allem eins nicht: die Hoffnung aufgeben. Je länger du damit lebst, desto einfacher wird es. Die Tics werden selbstverständlich, die Angst rückt in den Hintergrund und die Scheißtage werden immer seltener. Du lachst wieder häufiger und du willst den anderen Hoffnung schenken. Du willst es in die Welt hinaus schreien "Seht! So ist Tourette und so toll kann das Leben damit sein" und fährst zu Selbsthilfegruppentreffen quer durch Deutschland, um anderen davon zu erzählen. Du gehst in die Schulen und Krankenhäuser und hältst Vorträge, wirst zum Experten deiner eigenen Krankheit. Und irgendwann ist dir scheißegal, dass die Kinder an der Bushaltestelle über dich gelacht haben, weil du wieder "Polly will Cracker" gerufen hast, völlig ohne Grund. Lachen verleiht der Seele Flügel.

Mein Therapeut sagte gestern zu mir, er sei unglaublich stolz auf mich und meine Erfolge und dass ich auf gutem Wege sei. Das sehe ich auch so. Ich darf mich einfach nicht von den kleinen Misserfolgen ausbremsen lassen. Immer weiter gehen, einen Schritt nach dem anderen, und dann kommt das schon alles. Ich habe im letzten Jahr so viel für mich erreicht, dass ich es manchmal selbst nicht fassen kann.

Was ich euch mit meiner Geschichte sagen möchte? Vergrabt euch nicht hinter euren Krankheiten! Auch ihr seid Menschen und ihr könnt es schaffen, den Weg herauszufinden. Vieles steht und fällt mit der Einstellung, so doof das klingt. Aber ich finde es unglaublich wichtig, dass man nicht das Lachen verlernt."


Die eigenen Gedanken niederzuschreiben kann beim Verarbeiten schlimmer Erlebnisse weiterhelfen. Auch anderen kann deine Geschichte Mut und Zuversicht schenken. Gerne möchten wir daher jedem die Möglichkeit geben, hier seine Gedanken mitzuteilen. Bei Interesse schreibt uns einfach unter "kontakt@impulsdialog.de".
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