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Jorinna und ihre Vergangenheit - Ein Erfahrungsbericht

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Jorinna ist eine tapfere junge Frau. Vielleicht hätte es geholfen, wenn ihre Mutter und die Mitschüler diesen Erfahrungsbericht gelesen hätten. Vielleicht hätte sie dann anstatt Ignoranz und Verunglimpfung, Verständnis und Hilfe erfahren. Wir wünschen Jorinna von Herzen, dass sie ihre Vergangenheit irgendwann hinter sich lassen wird. Das Leben hat gerade erst begonnen. Wir möchten dich gerne dabei unterstützen liebe Jorinna. Wenn du das möchtest.

"Alles fing 2011 an. Kurz nach meinem 15 Geburtstag. Die Sätze meiner Ärztin hallen immer noch durch meinen Kopf, auch nach fast 4 Jahren. Ich habe ihre Fragebögen ausgewertet und die Diagnose lautete: Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie eine schwere Depression.

Ich frage mich bis heute, wie aus einem einst so glücklichem Menschen, das heutige Ich wurde. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie "beliebt" ich von der Grundschule bis zum Schulwechsel war. Ich war ein offenes Mädchen, was gerne neue Leute kennen gelernt hat. Heute habe ich schon Angst allein vor meiner Schule zu stehn. Ich bekam die Empfehlung für die Realschule oder fürs Gymnasium. Obwohl man meiner Mutter dazu riet mich an einer Realschule anzumelden. Die Noten hatte ich dafür, ich war eine gute Schülerin. Doch meine Mutter entschied sich für eine Hauptschule. Vom ersten Moment an merkte ich, dass ich hier nicht hingehörte. Der Lernstoff war für mich von Anfang an viel zu einfach und langweilig. Die Lehrer merkten ziemlich schnell, dass ich unterfordert war. Also sprachen sie mit meiner Mutter und rieten ihr, mich an einer anderen Schule anzumelden. Doch sie weigerte sich. Also ging ich weiter auf die Hauptschule. Zum Sommer hin kamen dann die Zeugnisse und ich war (wen wunderts) die Beste mit nem Schnitt von 1,4. Ich freute mich, denn schließlich wollte ich einmal Ärztin werden. Doch der Hass der Anderen wartete nicht lange. In der 6.Klasse fingen sie an mich fertig zu machen, mich zu beschimpfen wie dünn ich doch sei und ob wir kein Geld für Anziehsachen hätten. Sie beklauten mich, schnitten mir meine langen Haare ab, bespuckten mich. Nach dem ersten Halbjahr ging ich dann nicht mehr zur Schule. Meiner Mutter war es egal.

In dieser Zeit kam meine kleine schwester zur Welt. Der Beginn meines Untergangs.

Ich wurde zwar in die 7te klasse versetzt und auch in die 8te, doch war ich ein seltener Gast. In der Zeit wo ich nicht zur Schule ging, lebte ich in den Tag hinein. Der Streit mit meiner Mutter, der täglich da war, zog mich noch weiter runter und ich fing mit 13 das erste mal an, mich zu schneiden. Es löste zwar nicht die Probleme, doch für mich bestand der Glaube, dem Tod ein Stück näher zu sein. Das Schneiden wurde zur Sucht, ich brauchte es täglich und da ich mich damit besser fühlte, ging ich auch wieder zur Schule. In meinen ganzen Jahren hatte ich nur einen besten Freund, der bis zu seinem Tod zu mir stand.

In den Sommerferien lernte ich Dennis kennen. Er veränderte mein Leben. Nach 1 1/2 Jahren und ziemlich zerschnittenen Armen und Beinen ging ich dann zum Beginn der 8ten Klasse wieder zur Schule. Ich war ab dem Tag an jeden Tag bei ihm. Genauso wie ich, hatte auch er sein Päckchen zu tragen. Er war drogen- & alkoholabhänig und ich fühlte mich verpflichtet, ihm zu helfen! Er half ja schließlich auch mir. Er redete nicht wie die Anderen auf mich ein, es zu lassen. Er tat es ja auch. Er war zu Tag und Nachtzeit für mich da, wenn meine Mutter mich mal wieder verprügelte oder mich raus warf. Mit der Zeit vertrauten wir uns immer mehr und manchmal stritten wir und doch meinte ich das gar nicht so. Das war das erste, was auffiel, auch in der Schule. Ich ließ mich weiterhin als "Opfer" beleidigen und fertig machen, doch es tat nicht mehr so sehr wie am Anfang weh. Schließlich hatte ich meine Klinge. Ich handelte oft anders, als ich sagte und hasste Dennis, obwohl er für nichts konnte. Im nächsten Moment aber tat es mir leid und ich entschuldigte mich so oft ich konnte. Menschen die an der Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden handeln zu 90% immer anders, als sie es meistens wollen oder meinen. Das erschwert den Mitmenschen oft denen zu helfen, da sie selbst von der betroffenen Person verunsichert werden. Am Anfang war es ihr ziemlich egal wo ich war, bis sie von dem Getratsche in der Gegend erfuhr, wo ich überhaupt all die Zeit verbrachte. Sie sperrte mich in meinem Zimmer ein und verbot mir weiterhin zu Dennis zu gehn. Sie war all die Zeit nicht da und verbot mir dann auch noch den Kontakt zu Dennis. Das ließ ich nicht mit mir machen, also beschloss ich bei der nächsten Gelegenheit abzuhaun. Was ich auch tat. Ich wohnte all die Zeit bei Dennis. Ich ging normal zur Schule und hatte im null komma nichts wieder die Noten wie früher. Meine Mutter meldete sich nicht in all der Zeit wo ich fort war,obwohl ich nur drei Häuser weiter war. Am 14.07.2011 beschloss ich Suizid zu begehen. Ich hatte das Gefühl nur eine Last zu sein. Für alle.

Heute bin ich froh, dass der Suizidversuch misslungen ist. Damals jedoch hasste ich mich noch mehr, weil ich mir dumm vorkam. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange ich genau im Krankenhaus lag, aber danach wurde ich in die Geschlossene gebracht. Dort verbrachte ich 6 Monate. 6 Monate wo ich mich nicht schnitt, dafür aber hungerte und professionelle Hilfe bekam. Dennis rief oft an und fragte nach mir, doch all die Anrufe kamen nie zu mir durch. In dieser Zeit bekam ich auch die Diagnosen. Für mich war das Leben eine Strafe, selbst nach 6 Monaten Therapie. Meine Mutter war irgendwie erleichtert, dass ich nun wieder "leben" wollte und sie dachte meine "schlimme" Phase lag an Dennis. Im Januar 2012 wurde ich dann endlich entlassen. Meine Mutter dachte ich müsste die 8te wiederholen, doch ich wurde mit in die 9te genommen. Ich kam allerdings in die Parallelklasse, da von meinem Suizidversuch alle wussten. In der neuen Klasse fand ich ganz schnell komischerweise Freunde, die mich mochten. Ich wurde zur Klassensprecherin gewählt und auch meine Noten waren sehr gut. Anfangs hatten die Lehrer Zweifel, ob ich überhaupt meinen Hauptschulabschluss nach 9 Jahren schaffen würde, da ich die meiste Zeit gar nicht da war. Aber ich schaffte ihn und alle freuten sich, dass ich sogar Klassenbeste wurde! Ich überwand die Depressionen und konnte auch wieder lachen in der Zeit.

Die meisten aus meiner Klasse brachen danach ab oder meldeten sich auf einer anderen Schule an, wie ich. Ich versuchte die neue Schule positiv zu sehn, vielleicht waren die da genauso nett wie hier. Ich hatte ein Ziel: Ärztin werden. Ich hatte die Qualifikation für den Realschulabschluss und kam somit auch in die 10b. Wie auch in den Sommerferien zuvor war ich auch diese mal wieder bei Dennis. Meiner Mutter war es wie zuvor auch vollkommen egal. Das Schneiden ging weiter, immer tiefer. Ich liebte meine Narben, auch heut noch, denn sie sind ein Teil von mir. Zu Beginn des neuen Schuljahres lief alles gut in meiner neuen Klasse bis zu dem ersten Tag, an dem wir Sport hatten. In der Umkleide sahen sie meine Narben überall. Sofort ging das Getratsche über mich los und auch die ersten Beleidigungen ließen nicht lange auf sich warten. Ich machte den Sportunterricht noch mit und ging danach nach Hause. Ich ging einige wochen nicht zur schule und meine Mutter nahm sich endlich mal Zeit für mich. Doch statt Verständnis, bekam ich Ärger, Schläge und Hausarest.

Mir blieb keine andere Wahl, also ging ich wieder zur Schule, in der Hoffnung, dass sie es vergessen hatten. Doch stattdessen fing das Gemobbe wie in den ganzen Jahren zuvorwieder an. Womit hatte ich das verdient? Ich ging 2 Monaten nach Beginn des 10. Schulhjahres nie wieder zu dieser Schule. Wie auch zu erwarten, bin ich dann auch wieder in die Depressionen gefallen. Zu Hause warf man mir vor, ich würde meine "Krankheit" leben. Doch keiner konnte mich verstehen. Sie wussten nicht, wie es war. Als das Schuljahr vorbei war, meldete man mich an einer Abendschule an. Die ersten Jahren waren schlimm für mich, wieder Vertrauen in Menschen zu haben, die mich mochten wie ich war.

Am 15.07.2013 starb dann mein bester Freund an einer Überdosis.

Ich verkraftete diesen Verlust nie. Ich fiel tiefer in die Depression. Ich ging nicht zu amtlichen Terminen, nicht zur Schule, ich kriegte mein Leben nicht mehr in den Griff. Ich schlief in meinem Bett den ganzen Tag und wenn ich doch mal wach war, dann zum Essen, Ritzen oder um aufs Klo zu gehn. Am 8.8.2013 begann ich meinen zweiten Suizidversuch und auch dieser missglūckte. Wieder kam ich auf die Geschlossene, diesmal aber "nur" 2 Monate, dann wurde ich auf die Offene gebracht. Dort machte ich eine Therapie. Am 24.11 wurde ich dann entlassen. Meine Therapeutin verstàndigte in der Zeit das Jugendamt und ich bekam die Bewilligung einer eigenen Wohnung mit 17. Ich lebte mein Leben weiter, so gut es ging. Ich hörte auf mit dem Selbstverletzen und auch die Depressionen bekam ich in den Griff mit Medikamente. Zur Schule ging ich trotzdem nicht. Zu groß war die Angst, erneut gemobbt zu werden. Ich lernte meinen ersten Freund am 1.1.2014 kennen, auf einer Neujahrsparty auf der ich von einer alten Freundin eingeladen wurde. Wir sind bis heute noch zusammen und er stand all die Zeit immer zu mir.

Auch in diesem Jahr gab es einen weiteren Suizidversuch von mir am 15.07.14.

Bis heute vermisse ich Dennis und wünschte noch immer bei ihm zu sein. Egal wie sehr ich auch von meinem Freund geliebt werde und auch Unterstützung bekomme. Ich bin mittlerweile seit etwa 3 Monaten clean vom Schneiden, dank meines Freundes. Das es aber einen nächsten Suizidversuch geben wird, ist nicht ausgeschlossen. Ich habe bis heute Angst zur Schule zu gehn, auch wenn ich immer noch Ärztin werden will.

Ich möchte mit euch mein Leben teiln, weil ich euch zeigen will, wie verletzlich ein Mensch ist und das man bevor man etwas sagt, nachdenken sollte. Kein Fremder weiß, was eine Person erlebt hat bzw was man anstellt, wenn man gemein zu einer Person ist. Ich sei zerbrechlich wie eine Glasskugel, sagt mein Freund immer zu mir. Und das kann jeder sein. Ich wollte auch nie Mitleid oder so, denn dann fühle ich mich eher unverstanden und nicht ernst genommen. Aber egal wie schwer das Leben auch sein mag, kämpft weiter!
Vielleicht werde ich irgendwann mein Ziel erfüllt haben, doch bis dahin ist noch ein langer Weg ..."


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Ein Kommentar

Interessanter Bericht einer Frau, die kämpft. Kann ich gut nachvollziehen. Immer wieder Rückschläge, immer wieder Ängste. Hoffentlich erreicht sie ihr Ziel Ärztin zu werden. Das Leben hat sie geprägt. Das macht viel aus. Ich wünsche ihr alles Gute.
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jessica

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