Neue Medien verändern unsere Welt - wir haben die Möglichkeit in Sekundenbruchteilen mit Menschen auf der ganzen Welt zu kommunizieren und haben eine riesige Wissensdatenbank praktisch in der Hosentasche. Dass sich die Welt um uns herum dadurch verändert, sollte selbstverständlich sein. Doch welchen Einfluss haben die neuen Medien auf unser Selbst?
Das Smartphone ist Bestandteil unzähliger Handlungen des alltäglichen Lebens - von Kommunikation, über den Wetterbericht bis hin zur Buchung von Busfahrkarten. Viele kennen vermutlich die Nervosität, wenn das Handy nicht in der Nähe ist, das Greifen nach dem kleinen Begleiter - aus Langeweile oder in einer Gesprächspause. Der Philosoph und Kognitionswissenschaftler Andy Clarc geht sogar so weit, das Smartphone als Erweiterung unseres Selbst zu sehen, als eine Art externe Festplatte, die grundlegende Funktionen des Denkens für uns übernimmt - Rechnen, Nachdenken und vor allem Erinnern.
The Extended Mind - Outsourcing des Gedächtnis
"Das Gehirn geht über graue Masse hinaus" - damit meint Andy Clarc, dass Objekte Funktionen übernehmen, die eigentlich dem Gehirn zugeschrieben werden. Das beginnt schon bei dem einfachen Notieren einer Telefonnummer. Anstatt sich diese einzuprägen, erweitert man das Gehirn, bildlich gesprochen auf den Notizblock. Durch das Aufschreiben braucht man sich die Nummer nicht mehr zu merken - man hat die Erinnerungsaufgabe externalisiert.
Mittels seines Internetzugangs geht das Smartphone noch einen Schritt weiter. Es gibt nicht nur Dinge wieder, die wir schon einmal eingegeben haben, sondern liefert uns Informationen über praktisch alles was wir wissen möchten. Oft geht es schneller eine Frage kurz in eine Suchmaschine einzutippen, als selbst zu überlegen. Wir brauchen uns Informationen also nicht mehr selber zu merken - das Internet wird zu einem Teil unseres Gedächtnisses.
Warum passen Mensch und Smartphone so gut zusammen?
Der Mensch neigt in seinem Denken zu Faulheit. Nach der Dual-Process-Theorie gebrauchen wir zwei verschiedene Denkstrategien - eine schnelle und eine langsame. Stellen Sie sich als Beispiel folgende Frage:
Sie kaufen einen Stift und einen Radiergummi. Zusammen kosten die beiden 1,10 Euro. Der Stift kostet genau 1 Euro mehr als der Radiergummi. Wie viel kostet der Radiergummi?
Wenn Ihre Antwort 10 Cent ist, haben Sie sich auf die erste Antwort verlassen, die Ihnen intuitiv in den Sinn kam, so wie insgesamt 77 Prozent der Teilnehmer einer Studie vom kanadischen Forscher Nathaniel Barr. Sie haben eine Heuristik benutzt, das heißt eine mentale Abkürzung, um auf dem schnellsten Weg zum Ergebnis zu kommen. Das ist die schnelle Denkstrategie.
Prüft man die Antwort durch eine einfache Rechenoperation, merkt man aber, dass die erste intuitive Antwort in diesem Fall nicht zum richtigen Ergebnis führt. (10 Cent für den Radiergummi + 10 Cent + 1 Euro für den Stift würde 1,20 Euro ergeben). Das systematische und detaillierte Überlegen wiederum ist der lange Weg zur Antwort. Dieser liefert meist das richtige Ergebnis, ist aber mit wesentlich mehr Aufwand verbunden- er nimmt mehr kognitive Kapazitäten ein. Im Alltag ist es oft wichtiger schnelle Entscheidungen zu treffen und möglichst viele kognitive Kapazitäten für andere Aufgaben frei zu halten, deswegen bevorzugen wir in der Regel Heuristiken. Würden wir das nicht tun, wären wir von den zahllosen Entscheidungen die wir tagtäglich treffen müssen, überfordert.
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In manchen Situationen können wir aber wählen zwischen der schnellen, wenig aufwändigen Heuristik, die ein gewisses Fehlerrisiko beinhaltet, oder der aufwendigen, langsameren Analyse, die aber mit einer hohen Wahrscheinlichkeit das richtige Ergebnis liefert. Menschen unterscheiden sich darin, zu welcher Denkstrategie sie in solchen Situationen, wie zum Beispiel der Matheaufgabe neigen. Heuristiken machen das Denken leichter und weniger aufwändig. Genau die gleiche Funktion erfüllt ein Smartphone, mit dem man sich in vielen Situationen anstrengendes Nachdenken ersparen kann. Barr und seine Kollegen dachten diesen Gedanken weiter und bezeichneten das Smartphone als eine gedankliche Abkürzung außerhalb des Gehirn - eine externe Heuristik. Tatsächlich fanden Sie in einer Studie heraus, dass diejenigen Menschen, die mehr dazu neigen die schnelle Denkweise zu benutzen, auch eher zu extensivem Smartphonegebrauch neigen. Das Smartphone erfüllt also die natürliche Neigung des Menschen sein Denken abzukürzen und gedankliche Anstrengung zu vermeiden.
Intellektuelle Unterforderung durch Smartphone-Nutzung?
Durch die ständige Verfügbarkeit des Smartphones wird das aktive Nachdenken und Erinnern weniger gefordert. Es ist also naheliegend, dass unser Gedächtnis darauf reagiert. Es gibt verschiedene Prozesse, die unser Gehirn erfolgreich ausführen muss, damit wir eine Erinnerung langfristig behalten. Zunächst muss die relevante Information enkodiert, das heißt eingespeichert werden. Dabei ist es grundlegend, diese wahrzunehmen und zu verstehen, was nur möglich ist, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten. Unser Kontingent an Aufmerksamkeit ist begrenzt, deswegen müssen wir dieses aufteilen, wenn wir mehrere Aufgaben gleichzeitig bearbeiten. Dementsprechend steht für jede einzelne Aufgabe weniger Aufmerksamkeit zur Verfügung.
Nehmen wir als Beispiel den Second-Screen-Effekt, den die holländische Psychologin Anna van Cauwenberge untersuchte. Sie stellte Studierende vor die Aufgabe Nachrichten zu schauen, wobei sie entweder nur diese Aufgabe ausführten oder sich nebenbei mit einer zweiten Aufgabe beschäftigten - mit ihrem Smartphone. Diejenigen, die nur Nachrichten schauten, also ihr ganzes Aufmerksamkeitskontingent nur dieser einen Aufgabe zur Verfügung stellten, konnten hinterher wesentlich mehr Inhalte des Gesehenen erinnern als diejenigen, die ihre Aufmerksamkeit zwischen den zwei Aufgaben aufteilten. Durch das mehr an Aufmerksamkeit hatten Sie auch mehr eingespeichert.
Kommen wir zu einem zweiten Gedächtnisprozess - dem Abruf. Es ist nicht genug damit eine neue Information einzuspeichern. Um sie sinnvoll zu nutzen, muss auch auf sie zugegriffen werden. Das ist mit Nachdenken verbunden - man muss sich anstrengen, um auf die Information zuzugreifen. Wir haben bereits festgestellt, dass wir häufig Heuristiken benutzen. Wir greifen also zu unserem externen Hilfsmittel, dem Smartphone, um diese Anstrengung zu vermeiden. In diesem Fall erfüllt die Anstrengung allerdings eine Funktion: das intensive Nachdenken hilft, die Erinnerungen im Gedächtnis zu festigen, denn was man einmal selbst abgerufen hat, das bleibt eher im Gedächtnis. Im Umkehrschluss merkt man sich, was man nur gegoogelt hat, schlechter und das Wissen, das man über das Smartphone erfahren hat, finden wir nur in unserem externen Gedächtnisspeicher, dem Internet, wieder.
Auch weitere alltägliche Denkprozesse werden durch die Smartphone-Nutzung beeinflusst. Wie bei Gedächtnisprozessen, spielt die Aufmerksamkeit dabei eine wesentliche Rolle. Um eine Aufgabe möglichst effektiv zu bearbeiten, sollte man ihr möglichst viele Aufmerksamkeitskapazitäten zukommen lassen. Bearbeitet man parallel eine andere Aufgabe, muss man sein Kontingent an Aufmerksamkeit aufteilen und mindert so seine eigene Leistungsfähigkeit. Eine ankommende Nachricht, allein das Aufblinken des Smartphones lösen ablenkende Gedanken aus. Das nimmt so viel Aufmerksamkeitskapazität ein, dass die Leistung in der eigentlichen Aufgabe beeinträchtigt wird und wir schlechtere Ergebnisse zeigen - sei es in Arbeit, Studium oder Schule.
Nutzen von Smartphones
Smartphones haben aber nicht nur negative Effekte auf unser Denken. Für Menschen mit einem schlechten prospektiven Gedächtnis, das heißt für diejenigen, die Schwierigkeiten haben, sich an ihre Termine und Aufgaben zu erinnern, gibt es kaum ein wirkungsvolleres Hilfsmittel als die Erinnerungsfunktion im Handy. Kaum jemand wird außerdem bestreiten, dass es über Online-Kommunikationsdienste deutlich einfacher ist über weite Distanzen in Kontakt zu bleiben, als über herkömmliche Kommunikationsformen. Auch eine riesige Wissensdatenbank in der Hosentasche ist sicherlich nicht von Nachteil - solange der Akku nicht leer ist. Ob ein Smartphone das Richtige ist, sollte jeder für sich selbst entscheiden, wichtig ist dabei nur, über die kognitiven Erleichterungen durch das Smartphone, das selber Denken nicht zu verlernen.
Autor: Lilian Seidler (Impulsdialog)
Quellen:
Barr, N., Stolz, J., Fugelsang, J. (2015). The brain in your pocket: Evidence that Smartphones are used to supplant thinking. Computers in Human Behavior, Vol. 48, 473-480.
Clayton, R., Leshner, G., Almond, A. (2015). The Extended iSelf: The Impact of iPhone Separation on Cognition, Emotion, and Physiology. Journal of Computer-Mediated Cognition, Vol. 20, 119-135.
Stothart, C., Mitchum, A., Yehner, C. (2015).The Attentional Cost of Receiving a Cell Phone Notification. Journal of Experimental Psychology, Vol. 41, 893-897.
Thornton, B., Faires, A., Robbins, M.,Rollins, E. (2014) The Mere Presence of a Cell Phone May be Distracting Implications for Attention and Task Performance. Social Psychology, Vol. 45, 497-488.
Van Cauwenberge, A., Schaap, G., Van Roy, R. (2014) ’’TV no longer commands our full attention.’’ Effects of second-screen viewing and task relevance on cognitive load and learning from news. Computers in Human Behavior,Vol. 38, 100-109.
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