Extraversion – das gesellschaftliche Idealbild?
Die Autorin Susan Cain widmet ihr Buch „Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt“ besonders den Leisen, die in unserer extravertierten Welt leicht überhört werden. Sie schreibt, dass in den USA vermutlich etwa ein Drittel bis die Hälfte aller Menschen eher introvertiert sei – und in anderen Ländern und Kulturen, wo nicht von Grund auf Extraversion als gesellschaftlicher Standard gelten würde, die Zahl mindestens so hoch wäre.
In unserer Lebens- und Arbeitswelt herrscht überwiegend die Ansicht, dass Charakterstärke und Liebenswürdigkeit vor allem darin besteht, schwungvoll, gesprächig und mutig zu sein und dass Glück in erster Linie im Beisammensein mit anderen zu finden ist. Gerade jene Züge also, die besonders Extraversion charakterisieren, werden als Idealvorstellungen gehandelt. Oft wird argumentiert, dass extravertierte Menschen im Beruf erfolgreicher sind, weil sie mehr aus sich herausgehen, ihren Wünschen und Bedürfnissen entschiedener Ausdruck verleihen und somit durchsetzungsfähiger wirken. Sie fühlen sich im Rampenlicht wohler und können sich selbst gut verkaufen, was vor allem ihrem Auftreten in Verkaufs- und Verhandlungsgesprächen zugute kommt.
Introvertierte verhalten sich in vielen dieser Situationen zurückhaltender – auch wenn in ihren Köpfen genau so produktive Prozesse vonstattengehen. Beim Brainstorming fallen sie oft weniger auf, weil sie lieber erst gründlich über das Diskutierte nachdenken. Bereits introvertierte Schüler, die im Unterricht still und zurückhaltend sind, können in der mündlichen Mitarbeit nicht so sehr punkten wie extravertierte Mitschüler. In Gruppenarbeiten gelingt es ihnen nicht so gut wie anderen, eigene Gedanken einzubringen und vor anderen nachdrücklich zu vertreten. Auch abseits von Ausbildung und Beruf können bei Introvertierten Verzögerungen im sozialen Lebenslauf auftreten, weil es ihnen schwerer fällt, neue Beziehungen aufzubauen.
Dies erweckt den Eindruck, dass Introvertierte einen geringeren Beitrag leisten. Dabei sind viele Elemente unserer Ausbildungsstätten und Arbeitsplätze, wie etwa Brainstorming, Gruppenarbeiten und Großraumbüros, vor allem auf Extravertierte zugeschnitten. Mehr und mehr Arbeitgeber werden jedoch auf die unterschiedlichen Anforderungen ihrer Angestellten aufmerksam und beginnen Voraussetzungen zu schaffen, unter denen auch Introvertierte ihr Potenzial entfalten können. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sogar viele der größten Erfinder und Wissenschaftler eher auf der introvertierten Seite des Spektrums angesiedelt waren. Stephen Wozniak, einer der Mitbegründer der Apple Computer, empfiehlt sogar, an wirklich großen und wichtigen Projekten alleine zu arbeiten. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass ein eigener Raum, um sich ganz für sich selbst auf Aufgaben konzentrieren zu können, sogar oft zu besseren Leistungen führt, indem der Projektfortschritt nicht laufend koordiniert und die Ergebnisse nicht von vielen verschiedenen, oft konventionellen Meinungen und Mehrperspektivität verwässert werden. Zudem ermöglicht der eigene Fokus auch ein besseres Feedback an sich selbst. Eine Portion Introversion im Arbeitsleben kann der Produktivität also sogar zugute kommen.
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